Wir stellen Personen vor, die für diese Menschen und gegen die Einsamkeit arbeiten: Zum Beispiel Rosemarie Heimberger, die an Heiligabend den Telefonhörer abnimmt. Die 71-Jährige engagiert sich seit acht Jahren ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge (TS). Das ganze Jahr über erreichen sie Anrufe von einsamen Menschen, erzählt sie. Doch an Weihnachten wiege die Einsamkeit etwas schwerer, die Stimmung sei nostalgisch und Anrufer thematisieren Verluste.
Einige erwarten nur, dass man ihnen zuhört – andere beginnen mit der Aufarbeitung ihrer Lebensgeschichte. Hier stoßen Ehrenamtliche an ihre Grenzen, bemerkt Heimberger, denn: „Wir möchten ja keine neuen Wunden schaffen oder alte Wunden aufreißen. Wir wollen, dass der Tag erträglich wird und die Weihnachtszeit aushaltbar.“ Sie versuche, Menschen zu ermuntern, sich selbst eine schöne Atmosphäre zu schaffen. Etwa mit einer Tasse Tee oder einer Kerze.
Misslungene Weihnachtsfeste mit anderen können dafür sorgen, dass Menschen Weihnachten lieber allein verbringen. Auch mangelndes Vertrauen in andere lässt einsam werden und führt dazu, dass das Telefon der TS durchgehend klingelt. Nur etwa einem Drittel aller Anrufer gelingt es, die TS zu erreichen.
Drei- oder viermal
Daueranrufer nutzen mehrere Telefone mit eingerichteter Wahlwiederholung, um mehrmals täglich zu Wort zu kommen. Diese geben Heimberger gegenüber offen zu: „Ihr seid meine Familie.“ Sie habe dabei gemischte Gefühle, sagt sie, denn den Anspruch, eine Familie zu sein, könne sie nicht erfüllen. Sie spricht von einer „Überlebensstrategie“ der Anrufer und ergänzt: „Manche Medizin braucht man drei oder vier Mal täglich.“ Heimberger lebt zwar allein, aber einsam ist sie nach eigener Aussage nicht. Die TS ist nur ein Teil ihres Weihnachtsprogramms. Mit ihren fünf Kindern kommt sie einen oder zwei Tage später zusammen.
Ähnlich handhabt es Roswitha Kühnlein, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Bahnhofsmission Würzburg. „Wir sitzen quasi einen Tag später unter dem Christbaum“, erzählt sie.
Angebotsvielfalt
Die Haupt- und Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission versorgen Besucher mit Lebensmitteln und materiellen Hilfen. Darüber hinaus bieten sie Beratungen und Kriseninterventionen an. Viele Besucher stehen vor besonderen Schwierigkeiten, haben psychische oder körperliche Erkrankungen, Behinderungen oder sind auf der Flucht vor gewalttätigen Partnern oder Zuhältern. Kühnlein ergänzt, ihr sei es wichtig, Heiligabend in der Bahnhofsmission zu verbringen, „bei Menschen, die nirgendwo anders sein können“. Jeder Mensch könne von Verletzungen und Verlust berichten – doch nicht jeder Mensch sei gleich belastbar.
Ihr Kollege und Leiter der Bahnhofsmission Michael Lindner-Jung pflichtet ihr bei. Er übernimmt dieses Jahr eine Dienstschicht an Heiligabend. Einerseits wolle er Kollegen entlasten, die Weihnachten mit der Familie verbringen möchten, erläutert er. Andererseits fühle er Weihnachten am stärksten, wenn er in der Bahnhofsmission sei.
Symbol der Krippe
Im Kindes- und Jugendalter sei die Krippe für ihn Symbol der Weihnacht gewesen, ergänzt Lindner-Jung. Als Diplom-Theologe habe er lange reflektiert und sich gefragt, wie sich dieses Symbol übertragen ließe. Letztendlich sei er dazu gekommen, „dass die Besucher das Jesuskind sind und die Freiwilligen, die Geschenke bringen, das sind die Hirten. An Heiligabend bin auch ich ein beruflich professioneller Hirte“.
Auch wenn an Weihnachten dieselben Besucher kommen wie gewöhnlich, sei es eine ganz andere Erfahrung, sagt Lindner-Jung, „weil ich anders bin. Da sind eine Neugierde, Gänsehaut und Sensibilität“. Leider fehle auch an Weihnachten oft die Ruhe. Es gebe einzelne Momente der Besinnlichkeit und Harmonie. Zum Beispiel bot Kühnlein an Weihnachten einem betrübten Besucher einmal einen Kakao an. „Das war bei mir als Kind so, wenn ich einen heißen Kakao hatte, war alles gut“, erklärt sie, „warum soll es nicht wirken, wenn einer 50, 60 oder 80 ist?“ Und tatsächlich: Der Mann saß dann zufrieden da und schlürfte seinen Kakao.
Dass es mit leerem Magen keine gute Stimmung gibt, wissen auch die Mitarbeiter der Streetwork Underground. Einige Jugendliche kommen nur wegen des Essens, andere wegen der Geschenke und wiederum andere wegen der Atmosphäre, berichtet Mitarbeiter David Josefs. Der Sozialpädagoge hat seit 2015 kein Weihnachtsfest in der Anlaufstelle für Jugendliche verpasst. Bei Streetwork Underground am Würzburger Hauptbahnhof können Jugendliche und junge Erwachsene das ganze Jahr über duschen, Wäsche waschen, etwas essen oder einen Computer benutzen. Darüber hinaus bieten die Mitarbeiter der Underground Beratungsgespräche an, die unter anderem bei der Arbeits- und Wohnungssuche helfen. Doch „an Weihnachten müssen wir uns nicht mit Problemen und Lösungsansätzen beschäftigen“, findet Josefs. Stattdessen sollen sich die Heranwachsenden sicher und geborgen fühlen. In dieser Zeit sei der gesellschaftliche Druck auf das Individuum ohnehin wahnsinnig hoch, sagt er. Es gebe die Erwartung, dass alles harmonisch zu sein habe, dass geschmückt, gebacken, gekocht und gekauft werden muss. Er wolle andere von diesem Druck entlasten.
Da es sich bei Streetwork Underground um eine evangelische Einrichtung handelt, stellt Weihnachten auch hier einen Höhepunkt dar, auf den schon Wochen zuvor hingearbeitet wird. Die Mitarbeiter verteilen Nikolaussocken und bieten Waldspaziergänge an. Besucher und Mitarbeiter binden Adventskränze und backen gemeinsam Plätzchen. „Ich glaube, die meisten Menschen, die hierher kommen, sind einsam“, sagt Stefan Seehaber, der Leiter der Einrichtung. „Die wenigsten haben eine Familie, mit der sie Weihnachten verbringen können.“
Stimmungen
Wenn Seehaber über Weihnachten im Underground nachdenkt, dann erinnert er sich vor allem an Stimmungen. An das Leuchten in den Augen der Besucher, wenn es Geschenke gibt. Es gibt eine Liste, in die sich die Teilnehmer zuvor eintragen, damit sie zu Weihnachten ein Geschenk bekommen. Das ist jedes Jahr unterschiedlich. Es kann ein Buch, Handtuch, Lebensmittelgutschein oder Spiel sein. Auch sehr banale Beobachtungen erfreuen ihn: „Manchmal schlürfen Jugendliche einen Tee, den sie sonst nicht trinken.“
Bevor diese Menschen die Einrichtung betreten, laufen sie womöglich an kakaotrinkenden Freunden oder waffelessenden Geschwistern vorbei. Vielleicht erkennen sie auch Hektik und Stress in den Gesichtern einiger, die noch schnell ein Geschenk besorgen müssen. Vom Rand aus hat man einen recht guten Blick auf die Mitte der Gesellschaft – doch der wird selten erwidert.
Angelina Horosun