Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Einladung, die Lectio Divina neu zu entdecken
Papst Franziskus hat das Heilige Jahr 2025 unter das Wort gestellt „Pilger der
Hoffnung“. In unserem Bistum wollen wir schon in diesem Jahr beginnen, uns
auf dieses geistliche Ereignis vorzubereiten. Ein wichtiges Element der
Vorbereitung ist die Einladung, sich neu mit dem Wort Gottes
auseinanderzusetzen. Denn jede Erneuerung der Kirche erwächst aus dem
Hören auf das Wort Gottes. In dieser österlichen Bußzeit ist es mir ein
besonderes Anliegen, unter den vielen Möglichkeiten, mit Gottes Wort
umzugehen, auf die Form der sogenannten Lectio Divina hinzuweisen. Das
Lateinische „Lectio Divina“ heißt wörtlich übersetzt „Lesung, die von Gott
kommt“. Zum besseren Verständnis dessen, was damit gemeint ist, bevorzuge
ich den Begriff der „Geistlichen Schriftlesung“.
Betend lesen und lesend beten
Die kürzeste Zusammenfassung dessen, was die Geistliche Schriftlesung will,
lautet: betend lesen und lesend beten. Die Einbettung des Lesens der Heiligen
Schrift in das Gebet zielt auf die persönliche Aneignung des Wortes Gottes. Mit
der Form der Lectio Divina reihen wir uns ein in eine sehr alte Tradition. Sie
wird bis heute vor allem in unseren Ordensgemeinschaften praktiziert, aber sie
ist keineswegs darauf beschränkt. Ich möchte vielmehr ausdrücklich alle in
dieser österlichen Bußzeit ermutigen, sich auf diese Weise neu mit dem Wort
Gottes auseinanderzusetzen, für sich persönlich, in unseren Familien, in den
Sitzungen der Pastoralteams, zu Beginn der Zusammenkünfte in unseren
Gremien und Verbänden.
Das Gebet um den Heiligen Geist
„Betend lesen und lesend beten“ bedeutet, dass jede Geistliche Schriftlesung
mit dem Gebet beginnt. Vor der Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes
betet man um den Heiligen Geist. Denn im Heiligen Geist wurde die Heilige
Schrift verfasst. Derselbe Geist ist es, der sowohl die Tiefen des Wortes Gottes
als auch die Tiefen des menschlichen Herzens auslotet (1Kor 2,10). Der Geist
Gottes erschließt uns Gottes Wort als „Worte ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Durch
das Gebet um den Geist wird bewusst der Rahmen gesetzt und eine
Atmosphäre der geisterfüllten Aufmerksamkeit geschaffen.
Nach dem Gebet um den Heiligen Geist folgen klassischerweise vier Schritte.
Sie lauten Lectio, Meditatio, Oratio und Contemplatio. Diese vier Schritte will
ich nun im Einzelnen betrachten.
Die Lectio oder das Lesen: Was sagt Gott heute?
Verständlicherweise beginnt die Beschäftigung mit dem Wort Gottes mit dem
Lesen, also mit der Lectio. Das kann lautes Vorlesen sein oder leises Lesen.
Beim Lesen geht es darum, genau hinzuhören, was Gott heute sagt in seinem
Wort. Zum besseren Verständnis dessen, was man liest, liegt es nahe, sich im
Vorfeld über das biblische Buch kundig zu machen, aus dem man eine
bestimmte Schriftstelle zu lesen gedenkt. Die Stelle selbst sollte aber kurz sein
und in der Regel nicht mehr als ungefähr zehn Verse umfassen. Man geht nie
fehl, wenn man sich bei der Auswahl der Schriftstelle an die Leseordnung der
Kirche hält. Durch die Konzentration auf die Tageslesung oder das
Tagesevangelium weiß man sich in der Geistlichen Schriftlesung mit der
Gebetsgemeinschaft der ganzen Kirche verbunden.
Das Lesen der Heiligen Schrift dient nicht so sehr der In-formation, sondern der
Trans-formation. Ich lese das Wort Gottes nicht wie eine Zeitung oder eine
wissenschaftliche Abhandlung, um mehr zu erfahren. Vielmehr will ich durch
die Lektüre in einen Dialog mit Gott eintreten. Die Lesung soll zum Gespräch
führen, das mich über mich hinausführt und mich verwandelt. Dazu muss ich
aber zuerst genau hinhören, was Gott heute sagt. Beim gemeinschaftlichen
Vollzug kann man sich nach dem Lesen darüber austauschen, was einem heute
aufgefallen ist oder was man heute zum ersten Mal hört.
Die Meditatio oder die Meditation: Was sagt Gott heute mir?
Nach dem Lesen folgt die Meditatio, oder die Meditation. Dieser zweite Schritt
dient der Erwägung dessen, was ich gelesen habe. Was sagt Gott heute mir?
Was spricht mich an in dem Text? Wo werde ich hellhörig? Was berührt mich
und warum nehme ich das heute wahr? Das Meditieren in Stille haben die alten
Theologen verglichen mit dem Wiederkäuen der Tiere. Als geistliche
Nahrungsaufnahme will ein Wort immer wieder neu „durchgekaut“ werden.
Man soll es nicht einfach herunter schlingen. Erst wenn man sich ausreichend
Zeit genommen hat für das Erwägen eines Wortes, kann es seinen vollen
Geschmack entfalten.
Die Oratio oder das Gebet: Was will ich heute Gott sagen?
Auf die Meditatio folgt die Oratio, das heißt das Gebet. Im Gebet ergeht auf das
Wort Gottes die Antwort des Menschen. Ich trete nun ein in einen Dialog mit
dem lebendigen Gott. Was ich als Botschaft für mich gehört habe, wird im
Gebet zur Formulierung meiner Not, meiner Angst, meiner Sehnsucht und
meiner Bitte. Aber genauso ist es möglich, dem Herrn im Gebet zu danken für
seinen Zuspruch, seine Wegweisung, seinen Trost und seine Ermutigung. Denn
die Fülle des Wortes Gottes bleibt unerschöpflich. In jeder Lebenssituation
kann ich ihm andere Bedeutungen abgewinnen und diesen Schatz von neuem
heben.
Die Contemplatio oder der geistliche Nachklang: Was nehme ich mit in den
Tempel meines Herzens („Con-Temp-Latio“)?
Das Gebet mündet in den letzten der vier Schritte, in die sogenannte
Contemplatio. Das lateinische „Contemplatio“ bedeutet wörtlich übersetzt
„Betrachtung“. In diesem Zusammenhang könnte man es am ehesten
wiedergeben mit „geistlicher Nachklang“. Was ich gelesen habe, was mir
bedeutsam geworden ist, und worum ich Gott gebeten habe, das soll in
meinem Herzen nachklingen dürfen. Erfahrungsgemäß wird es nur Weniges
sein, ein Vers oder ein Gedanke, der mich weiter begleiten soll. Im Sinne des
Heiligen Ignatius geht es um das „Verkosten von innen“ all dessen, was mich
erbaut und was mein Herz weit macht. Auf diese Weise kann ich mir ein Wort
zu eigen machen als Wort, das „meinem Fuß eine Leuchte“ ist und „ein Licht für
meine Pfade“ (Ps 119,105).
Bei der gemeinschaftlichen Schriftlesung kann man noch einmal am Ende
miteinander teilen, was einem kostbar geworden ist und was man als Schatz für
sich mitnehmen möchte.
Die Betrachtung und das Verkosten münden abschließend wiederum in ein
Gebet, mit dem ich die Zeit der Geistlichen Schriftlesung bewusst als Gebetszeit
abschließe.
Hinweise für einen fruchtbaren Vollzug der Lectio Divina
Zum Schluss möchte ich noch einige Hinweise für eine fruchtbare Geistliche
Schriftlesung geben.
Ein Erstes: Die Lectio Divina braucht Zeit. Das bringt die Abfolge der einzelnen
Schritte mit sich. Am besten reserviert man sich dafür immer dieselbe Zeit. Im
persönlichen Vollzug eine Zeit, in der man möglichst ungestört sein kann. Im
gemeinschaftlichen Vollzug eignet sich entweder der Beginn einer
Zusammenkunft oder deren bewusste Unterbrechung in der Mitte für eine
gemeinsame Betrachtung der Heiligen Schrift. Eine halbe Stunde mag dabei
zunächst genügen.
Ein Zweites: Die Lectio Divina braucht Stille, gerade für den Schritt der
Meditation und des Gebets. Im gemeinschaftlichen Vollzug ist es wichtig, zur
Stille anzuleiten. So weiß jeder, was jetzt ansteht und kann das Schweigen auch
gut aushalten.
Ein Drittes: Die Lectio Divina braucht Absichtslosigkeit. Das Schöne an der
geistlichen Schriftlesung ist ihre Zweckfreiheit. Ich muss nichts lernen. Ich muss
auch nichts erreichen. Ich soll das Wort Gottes auch nicht verzwecken. Ich muss
mich nur bereiten für die Begegnung mit dem lebendigen Wort Gottes. Die
innere Freiheit eröffnet einen Raum, in dem echte Begegnung im Geist mit
Gottes Wort möglich wird.
Ein Viertes: Die Lectio Divina braucht eine gewisse Regelmäßigkeit. Die
Wiederholung hilft, sich an die Abfolge der Schritte zu gewöhnen. Auf diese
Weise lernt man, sich in die Heilige Schrift hineinzumeditieren. Wer die
Geistliche Schriftlesung mit einer gewissen Regelmäßigkeit praktiziert, wird
merken, wie sie uns langsam von innen her verwandelt. Als Verwandelte
können auch wir die Welt verwandeln und ausschreiten auf unserem Weg als
„Pilger der Hoffnung“.
Hilfestellungen von Seiten des Bistums
Um zur Lectio Divina anzuleiten, hat unsere AG Bibelpastoral zusammen mit
dem Katholischen Bibelwerk dankenswerterweise ein Materialheft vorbereitet.
Es erscheint in dieser Fastenzeit in gedruckter sowie in digitaler Form. Darin
finden Sie eine Auswahl von acht Bibelstellen zum Thema Hoffnung, jeweils mit
Anleitung zur Geistlichen Schriftlesung. Zur Einübung werden wir außerdem
monatlich eine Lectio Divina im Online-Format anbieten, so dass Interessierte
sich auf diesem Weg mit der Geistlichen Schriftlesung vertraut machen können.
Liebe Schwestern und Brüder,
der Prophet Jesaja hat verheißen, dass das Wort Gottes nicht leer zum Herrn
zurückkehrt, sondern das erreicht, wozu es ausgesandt worden ist (Jes 55,11).
Diesem Anliegen dient die Geistliche Schriftlesung. Sie möchte uns darin
unterstützen, dass Gottes Wort nicht leer bleibt, sondern als guter Same Frucht
trägt dreißigfach, sechzigfach und hundertfach (Mk 4,8). Bitten wir bei diesem
Bemühen die Gottesmutter um ihre Fürsprache. Sie ist es, die im Neuen Bund
als erste das Wort Gottes gehört hat. Sie hat das Wort als persönlichen Anruf
aufgefasst. Und sie ist es auch, die mit Gott in einen Dialog eingetreten ist. So
hat in ihr das Wort in unübertroffener Weise Fleisch angenommen. Möge sie
uns helfend zur Seite stehen, damit auch wir Gottes Wort als Lebenswort
begreifen lernen, das uns verwandelt und in Christus erneuert.
Dazu erbitte ich Ihnen allen meinen bischöflichen Segen und wünsche uns
frohe und geistliche Tage der Vorbereitung auf Ostern!
Ihr
+ Dr. Franz Jung
Bischof von Würzburg