Eine beglückende Verheißung hat der Prophet Jeremia überliefert: Gott verspricht seinem Volk: „Ich gebe euch Hirten nach meinem Herzen; mit Einsicht und Klugheit werden sie euch weiden“ (Jer 3,15). Hirten von besonderer Qualität hat der Herr uns zugesagt. Er selber will sie uns senden. Er macht die Sorge für gute Hirten zu seiner Herzenssache. Sein Herz voller Liebe erwählt sie; sein Herz voller Liebe sendet sie; sein Herz voller Liebe schlägt für sie, wenn sie ihren Dienst wahrnehmen. Sein Herz voller Liebe befähigt sie, für die ihnen Anvertrauten „mit Einsicht und Klugheit“ zu sorgen.
Heute können wir einen solchen Hirten nach den Herzen Gottes feiern. Der selige Pater Johannes Duns Skotus, der vor 700 Jahren heimgerufen wurde, war nicht nur ein scharfsinniger Philosoph, nicht nur ein exzellenter Theologe, er war mit allen seinen außerordentlichen Fähigkeiten in der Nachfolge Christi ein guter Hirt. Er war es für seine Zeitgenossen; er ist es für uns heute. Er kann auch uns auf gute Weide führen, mehr: Er kann uns in besonderer Weise hin zu Jesus Christus und zugleich zu seiner und unserer Mutter führen. Im Blick auf beide hat er uns ein kostbares Erbe hinterlassen.
Zeuge der Liebe
Als Minorit folgte er den Spuren des heiligen Franziskus nicht nur in seinem Ordensleben, sondern auch in seiner Philosophie und Theologie. Wie der Poverello in seinem Sonnengesang den „erhabensten, allmächtigen, guten Herrn“ mit allen Geschöpfen preist, wie er den ganzen Kosmos in sein Denken und Beten einbezieht, so verherrlicht Johannes Duns Skotus den Herrn mit der Anstrengung des Begriffs und den Methoden der Theologie. Sein Gesamtwerk ist wie eine Übersetzung des Sonnengesangs in die Sprache der Wissenschaft. Auf seine Weise ruft er mit Franziskus den Menschen zu:
„Lobet und preiset meinen Herrn
und erweiset ihm Dank
und dient ihm mit großer Demut.“1
Im Zentrum des Lobpreises, des Dankes und des demütigen Dienstes steht Jesus Christus.
Jesus Christus, Allherr und Bruder
Es kennzeichnet Duns Skotus, wenn er in einem seiner Hauptwerke schreibt: „Wenn es um das Lob Christi geht, will ich lieber übertreiben als zu wenig sagen, falls ich zu Folge meiner Unwissenheit zwangsläufig das eine oder andere tun müsste.“2 Viele Theologen denken anders. Sie möchten lieber zu wenig sagen und praktizieren das auch. So kommt es zu einem Jesusbild, das auf menschliche Maße reduziert wird. Am Ende steht dann ein Jesus vor unserem Auge, der sich kaum von anderen Wohltätern und Religionsstiftern unterscheidet. Dabei bleiben viele biblische Aussagen über den Sohn Gottes, sein Wesen und Wirken außer Acht.
Anders Duns Skotus. Er lässt sich vom biblischen Zeugnis leiten. Er hört auf den, der von sich sagt: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb 22,13). Der ewige Sohn Gottes ist „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung ...; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen“ (Kol 1,15 f.). Aus diesen fundamentalen Aussagen zieht Duns Skotus eine wichtige Konsequenz. Mit ihr beantwortet er die Frage, die von Theologen immer wieder diskutiert worden ist. Sie lautet: „Cur Deus homo? Warum ist Gott Mensch geworden?“ Die Antwort vieler lautet: „Er ist wegen unserer Sünden Mensch geworden.“ Sie berufen sich auf das Credo, in dem es heißt: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen.“ Sie erklären: Ohne die menschliche Schuld hätte es keine Menschwerdung des Gottessohnes gegeben. Duns Skotus ist entschieden anderer Überzeugung. Für ihn steht fest, dass es zur ewigen Liebe Gottes gehört, dass Gottes Sohn Mensch wird. Eins seiner Argumente lautet: Ein so einzigartiges Wunder der Liebe Gottes kann nicht durch eine so minderwertige Ursache, wie es das menschliche Versagen ist, ausgelöst werden. Es hat seinen Grund in der ewigen Liebe Gottes. Weil Gott anderen Wesen seine Liebe und damit seine Glückseligkeit mitteilen will, hat er die Welt geschaffen. Das ist durch seinen Sohn geschehen. Von ihm heißt es im Kolosserbrief: „Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen“ (Kol 1,16). Nach dem ewigen Ratschluss Gottes soll der ewige Sohn die Mitte und der Mittler aller Geschöpfe sein und deshalb eins von ihnen werden. Der Sündenfall hat den Heilsplan Gottes nicht aufgehoben, wohl ist es durch ihn zu einer neuen Form seiner Verwirklichung gekommen. Jetzt ist die Trennung zwischen Gott und Mensch zu überwinden und zudem alles, was die Menschen gegeneinander und auseinander treibt. So hat Gott beschlossen, wie der Epheserbrief bezeugt: „In Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist“ (Eph 1,10). „Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut“ (Kol 1,19 f.). Durch Christus, mit ihm und in ihm wird aus der Mitte der Schöpfung der ewige Vater so geliebt, wie es seiner Liebe gebührt. In dieses Geschehen sollen alle Menschen einbezogen werden. Am intensivsten ist das in der Mutter des Herrn verwirklicht.
Die unbefleckt empfangene Gottesmutter
Als Ersterlöste ist Maria vom ersten Augenblick ihres Lebens an auf das Innigste mit ihrem Sohn verbunden. Seine Liebe ließ es nicht zu, dass auch nur einen Augenblick lang eine Sünde zwischen ihr und ihm stand. Die Befreiung von der Erbsünde, die er allen Menschen schenken will und jedem bei der Taufe zuteil werden lässt, hat er zuerst bei seiner Mutter verwirklicht. Zu der Zeit des Duns Skotus war das vielen nicht klar. Etliche waren der Meinung, auch Maria habe den Sold der Sünde zu zahlen gehabt und sei erst nach ihrer Geburt zu der Frau geworden, der Gabriel sagen konnte: „Du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir“ (Lk 1,28). Duns Skotus setzte sich als Lehrer in Oxford und in Cambridge und vor allem in Paris mit aller Kraft für die Wahrheit von der unbefleckten Empfängnis Mariens ein. Das gehörte mit zu seinem Christusbekenntnis. Er lehrt: „Der Erlöser aller Menschen hat seine Mutter auf die vollkommenste Weise erlöst. Die Bewahrung vor jeder Sünde ist zweifellos vollkommener als die nachträgliche Befreiung von ihr und ihren Folgen.“ Wörtlich erklärt Duns Skotus: „Ganz gewiss ist Christus der vollkommenste Erlöser, aber er wäre es nicht, wenn er nicht verdient hätte, sie vor der Erbschuld zu bewahren.“3 Das gläubige Bekennen der unbefleckten Empfängnis Mariens gehört deshalb zu dem Lobpreis, den wir Jesus Christus schulden. Es ist zugleich ein Zeugnis dafür, dass Maria alles der Gnade des Herrn verdankt, ist doch ein verdienstvolles Wirken im allerersten Augenblick des Lebens absolut ausgeschlossen.
Ein Hirt und eine Herde
Als Hirte nach dem Herzen Gottes bewährte sich Duns Skotus in dem Konflikt zwischen dem französischen König Philipp dem Schönen und Papst Bonifatius VIII. Der Herrscher hatte eine allgemeine Versammlung der Reichsstände einberufen. Am 10. April 1302 sollte sie in der Pariser Kathedrale für ein Konzil eintreten, das den Papst zu verurteilen hatte. Kurz darauf stimmte der höhere Klerus der Einberufung eines solchen Konzils zu. Auch die Universität stellte sich auf die Seite des Königs. Ganze Ordenskonvente schlossen sich an. Duns Skotus widersprach. Er riskierte damit das Ende seiner Universitätstätigkeit. Für seine Treue zum Papst, zu dem gottgewollten Hirten der einen Herde, musste Duns Skotus einen hohen Preis zahlen. Er erhielt den Befehl, innerhalb von drei Tagen das Königreich Frankreich zu verlassen. So kehrte er nach England zurück. Später konnte er sein Wirken in Paris erfolgreich fortsetzen. Dann wurde er als Lektor an das Generalstudium der Minoriten in Köln entsandt. Nur eine kurze Zeitspanne war ihm dort noch gegeben. Am 8. November 1308 wird er heimgerufen. Im Alter von 43 Jahren erlischt das Licht seines Lebens, nicht aber das Licht seiner Lehre.
Licht der Welt
Zeitlebens war Johannes Duns Skotus gemäß dem Wort Christi „Licht der Welt“ (Mt 5,14). Das Licht seines Lebens und seiner Lehre hat das Leben vieler Menschen heller werden lassen. Es hat ihnen geholfen, das Licht Christi und seiner Mutter zu sehen und in Treue zu Papst und Kirche zu stehen. An uns ist es, dieses Licht in unserer Zeit aufzunehmen und weiterzugeben. Auch uns sagt der Herr: „Euer Licht soll vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Stellt das Licht eures Glaubens nicht unter den Scheffel, „stellt es auf den Leuchter, dann leuchtet es allen im Haus“ (Mt 5,15). Der Glaube ist ein Geschenk zum Weiterschenken. Gebt Zeugnis von ihm in Wort und Tat, damit das Licht des Glaubens in unserer Zeit nicht erlischt! Seliger Bruder Johannes Duns Skotus, bitte für uns, dass wir nach deinem Vorbild Jesus Christus und die Wunder seiner Liebe froh und dankbar bekennen. Amen.